Der Nationalpark Stilfserjoch ist einer der gröβten Nationalparke in Italien und im gesamten Alpenraum. Er umschlieβt das gesamte Gebirgsmassiv Ortler-Cevedale mit seinen Nebentälern.
Im Park findet man alle alpinen Formenelemente. Sie reichen vom vergletscherten Hochgebirge über Almen und Hangterrassen bis hinab zu den Talböden. Im Park können wir ausgedehnte Wälder, landwirtschaftlich genutzte Flächen sowie ganzjährig bewohnte Berghöfe, Weiler und Dörfer bewundern.
Die Landschaft des Nationalparks ist geprägt durch das Nebeneinander von unberührter Natur und einer seit Jahrhunderten gepflegten Kulturlandschaft mit Alm- und Forstwirtschaft. Enzigartig ist die Landschaft in eisigen Höhen, wo wir klaren Gletscherseen und sprudelnden Bergbächen begegnen. Ihre wunderbare Vielfalt zeigt sich in allen Höhenlagen.
Es ist leicht nachvollziehbar, dass über Jahrzehnte hinweg unterschiedliche Interessen aufeinanderprallten: einerseits der Wille, die Landschaft zu schützen und unberührt zu erhalten, andererseits Pläne, den technischen Fortschritt auch im Park zu nutzen. Zielsetzung ist eine nachhaltige Entwicklung des Parks, in dem man die natürlichen Ressourcen, die Vollständigkeit des Ökosystems, die biologische Vielfalt erhält und den Wohlstand und die wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Werte garantiert.
Der Nationalpark Stilfserjoch wurde im Jahre 1935 gegründet. Er unterlag sechzig Jahre lang der staatlichen Domänenverwaltung. Im Rahmen einer Durchführungsbestimmung zum Sonderstatut der Autonomen Region Trentino-Südtirol wurde Ende der siebziger Jahre des vorigen Jahrhunderts eine Mitbeteiligung der Länder an der Verwaltung des Nationalparks in Form eines Konsortiums definiert. Dieses Konsortium dient der Verwaltung des Schutzgebietes und muss die einheitliche Führung des Nationalparks gewährleisten. Mit dem staatlichen Rahmengesetz über die geschützten Gebiete 394/1991 wurde auch die Region Lombardei in das Konsortium einbezogen.
Die langwierigen und schwierigen Verhandlungen führten zum Dekret des Ministerpräsidenten vom 26. November 1993, mit welchem das Konsortium für die Verwaltung des Nationalparks Stilfserjoch formell institutionalisiert.
Das Konsortium setzt sich aus folgenden Organen zusammen: dem Präsidenten, dem Nationalparkrat, den Führungsausschüssen für die Region Lombardei, für die Autonome Provinz Bozen-Südtirol und für die Autonome Provinz Trient und dem Kollegium der Rechnungsrevisoren. Die ordentliche und außerordentliche Verwaltung ist den Führungsausschüssen übertragen und erfolgt durch die jeweiligen Außenämter. Die Vorgabe der Richtlinien zum Erreichen der Ziele in den Bereichen Wissenschaft, Umweltbildung und Naturschutz werden vom Nationalparkrat und dem Präsidenten erlassen. Das Kollegium der Rechnungsrevisoren überprüft die Buchhaltungs- und Verwaltungsakten.
In der Lombardei ist der Aufsichtsdienst und die Kontrolle der staatlichen Forstbehörde übertragen, während sie im Parkgebiet in den Autonomen Provinzen von Bozen und Trient von der Landesforstbehörde wahrgenommen werden.
Von den mächtigen Gebirgszügen, die das Bild des Parks bestimmen, laufen zahlreiche Täler aus, die von der Kraft der vorrückenden und sich zurückziehenden Gletscher gebildet und von Gewässern geformt wurden. Die tieferen Regionen hat der Mensch teilweise in eine Kulturlandschaft verwandelt. Jedes Tal hat seine charakteristischen Eigenschaften. Im Vinschgau sind es vor allem die mächtigen, eiszeitlichen Schuttkegel, die zu den größten der Alpen zählen. Das Martelltal ist ein langgezogenes Hochtal, dessen Talschluss vom Cevedale beherrscht wird. Auf das Trafoital schauen Ortler und andere Gletscherriesen. Das Ultental ist wald- und seenreich, wie die Täler von Rabbi und Peio. Letztere sind auch durch ihre Mineral- und Heilwasserquellen bekannt. Auch im Veltlin, in Bormio haben Heilwasserquellen eine große Tradition. Durch die wichtigsten Täler des Nationalparks führen seit alters her Verbindungswege, die schon in frühgeschichtlichen Zeiten benutzt wurden. Man nutzte sie bei der Jagd, auf der Suche nach Mineralien oder beim Transport von Waren. Ein solcher bedeutender Verbindungsweg führte von Bormio in Richtung Fraele-Türme, weiter ins Engadin und nach Tirol. An einer Kreuzung zweier wichtiger Handelswege befindet sich das Städtchen Glurns, heute noch von den mittelalterlichen Stadtmauern umgeben.
Entlang der Wege und Straßen entstanden Dörfer und Weiler, von denen – ungefähr im 13. Jahrhundert – die Besiedlung der höheren Bergregionen begann. Deren Nutzung war Voraussetzung, dass die Siedlungen im Tale wachsen und aufblühen konnten.
Vereinfacht dargestellt besteht die alpine Region, zu der auch der Nationalpark Stilfserjoch gehört, aus zwei tektonischen Platten, die in Urzeiten übereinandergeschoben wurden. Gewaltige Kräfte ließen die afrikanische und die europäische Platte aneinanderstoßen und schoben die Erdkruste in die Höhe. Der Gebirgszug der Alpen entstand. So finden wir in verschiedenen Teilen des Parks hauptsächlich metamorphe Gesteinsformationen verschiedener Herkunft, die von diesen Naturkräften in der Tiefe – enorme Hitze und Druck – geformt wurden: beispielsweise die Schiefer im Vinschgau, die Gneisphylladen von Bormio oder der Laaser Marmor. Aber es gibt noch andere interessante Gesteinsformationen, so die Gneise vom Tonalepass mit interessanten Einsprengseln oder den Marmor vom Val di Canè. Ein eindrucksvolles Glimmerschieferband verbindet das Rabbital mit dem Peiotal; es reicht bis zum Corno dei Tre Signori.
Außerdem finden wir Felsen, die überwiegend aus Kalk und Dolomit bestehen; sie liegen über den Schieferschichten und formen beispielsweise den Gipfelaufbau des Ortlers, auch im Val Zebrù sind sie gut zu beobachten; hier hat der Bach sein tiefes Bett genau auf der Trennlinie von Sedimentgestein und metamorphem Gestein eingegraben. Auch Eruptivgestein tritt da und dort zutage. Ein bekanntes Beispiel dafür ist der "Plutone" von Sondalo, ein markanter Monolith. Aus Granit sind der Rücken der Serottini-Gruppe sowie die Gegend nördlich des Cercen-Passes. Schließlich lässt sich auch das Vorkommen von Quarzphyllit beobachten, so auf den Bergen zwischen dem Ulten- und dem Martelltal oder am Cevedale.
In einer geologisch gar nicht so fernen Zeit, im Pleistozän, also zwischen 1,5 Millionen und 10.000 Jahren vor unserer Zeitrechnung, folgten fünf Eiszeiten aufeinander, die ganz wesentlich zur Formung der Landschaft beigetragen haben. Die riesigen Gletscher formten auf ihrem Vormarsch große Talzungen, die in den Ebenen ausliefen. Auf dem Rückmarsch bildeten die Gletscher U-förmige Täler aus, ließen Moränen und Schuttkegel zurück. Im lombardischen Teil des Parks befindet sich die größte Gletscheransammlung der Zentralalpen, und der 12 Quadratkilometer große Forni-Gletscher ist der größte davon. Eine spektakuläre Gletscherregion befindet sich auch im Bereich des Stilfserjoches. In den von den Gletschern gebildeten Mulden entstanden besonders reizvolle Seen, Ausdruck von Ruhe und Harmonie, während die Schmelzwässer weiterhin enorme Mengen an Erde, Sand und Steinen zu Tale befördern.
Das Zentrum des Parks bilden ausgedehnte Gletscher. Die enormen Schnee- und Eismengen sind zugleich eine wertvolle Wasserreserve, aus der hundert Quellen, rauschende Bäche, stille Seen und schäumende Wasserfälle gespeist werden. Im trockenen Vinschgau wird das seltene und wertvolle Nass zum Teil noch durch ein uraltes Kanalsystem (Waale) auf die Felder und Wiesen geführt. Bäche und Flüsse, die aus dem Park fließen, führen gerade in der trockenen Sommerzeit das meiste Wasser. Viele von ihnen wurden aufgestaut. Aus der Wasserkraft wird elektrische Energie gewonnen. Längst aber sind auch die Stauseen, deren Wasserspiegel von Tal zu Tal in anderen Farbtönen schillert, ein Stück des Parks geworden.
Es gibt keinen Teil des Parks, in dem nicht Exemplare der typischen alpinen Tierwelt zu beobachten sind. Wir finden Hirschrudel, die dichte Wälder bevorzugen und Rehe, die besonders am Waldrand und auf den Lichtungen zu beobachten sind. Wer höher hinaufsteigt, wird mit Sicherheit Gämsen und in den höchsten Felsregionen auch Steinböcke sichten. Zahlreich sind Füchse, Murmeltiere, Eichhörnchen und Hasen, auch das Hermelin; seltener sind der Dachs und das Wiesel. Große Raubtiere kommen derzeit im Schutzgebiet nur gelegentlich vor. In jüngster Zeit wurde vereinzelt der Luchs nachgewiesen, relativ häufig waren in den letzten fünf Jahren die Beobachtungen von jungen männlichen Braunbären.
Auch die Jäger der Lüfte fehlen nicht: Wanderfalke, Habicht, Mäusebussard, Sperber und Turmfalke. Unter den Raubvögeln gibt es Uhu, Sperlingskauz und Raufußkauz. Die Nadelwälder bilden den idealen Lebensraum für das Auer- und Haselhuhn. An der Baumgrenze finden wir das Birkhuhn. Weiter oben, zwischen Felsen und Bergwiesen, leben das Schnee- und das Steinhuhn. Gegenwärtig kommen im Schutzgebiet mindestens 26 Paare von Steinadlern vor. Auch der Bartgeier hat im Nationalpark Stilfserjoch ideale Lebensraumbedingungen gefunden. Derzeit sind vier Brutpaare bekannt, und seit der ersten erfolgreichen Brut im Jahre 1998 sind im Parkgebiet 27 Jungvögel geschlüpft.
In den Gewässern kommen Bachforelle, Seesaibling und marmorierte Forelle vor. Der Grasfrosch ist im Parkgebiet weit verbreitet. Die Bergeidechse und die Kreuzotter sind die häufigsten und am meisten verbreiteten Reptilien im Park. Lückenhaft ist die Verbreitung der Schlingnatter, der Aspisviper, der Ringelnatter und der Blindschleiche. Nicht zu vergessen sind die Insekten, die ein wichtiges Glied in der Nahrungskette sind.
Naturfreunde finden im Park eine reiche Blumenwelt, besonders in den Wäldern; Blumenliebhabern bietet sich ein ganz besonderer Artenreichtum. Diese faszinierende Vielfalt der alpinen Flora hat ihren Grund im großen Höhenunterschied zwischen dem Talboden und den höchsten Gletscherregionen.
Somit lassen unterschiedliche Lebensbedingungen unterschiedliche Pflanzen gedeihen. Zugleich gibt es auch eine große Vielfalt an Böden mit dem entsprechenden Mikroklima. Es wächst somit eine erstaunliche Zahl an Arten, von denen nicht wenige wahre Raritäten sind, wie beispielsweise der Gletscherhahnenfuß, der in einer Höhe von mehr als 3.500 m wächst, oder die Soldanella pusilla, die Linnea borealis und die Drosera rotundifolia, die hier ihr Habitat finden.
Ob Feuchtgebiet oder Felskar, ob Kalkboden oder Silikatboden, beinahe auf jedem Flecken Erde wächst eine bunte Vielfalt von Blumen und Pflanzen: ein wahres Fest für die Sinne.
Die beachtliche Ausdehnung des Parks und die unterschiedlichen Höhenlagen – von 700 m am tiefsten und beinahe 4000 m Meereshöhe am höchsten Punkt – haben die Ausbildung verschiedener Ökosysteme von ganz eigenem Charakter bewirkt. Sie reichen von den Feuchtgebieten im Tal, den Erlenwäldern bis hin zu den Birkenhainen, während sich die Nadelhölzer die Höhen bis auf 2000 m Meereshöhe erobert haben. Fichte und Lärche dominieren in fast allen Gegenden das Landschaftsbild, aber auch die Latschen, die Zirbelkiefer und die seltene Weißtanne. Diese Wälder bilden einen idealen Lebensraum für die Mehrzahl der Tiere, die im Park leben. Darüberhinaus erfüllen sie eine wichtige Aufgabe bei der Regulierung des Wasserhaushaltes. Sie sind eine optimale natürliche Drainage und bilden dadurch einen festen Halt für Humus und Boden.
Dadurch ermöglichen sie ein sicheres Ansiedeln des Menschen bis in hohe Lagen. Schon sehr früh erkannte dieser die Bedeutung der Schutzwälder. Bereits im Mittelalter wurden von den Gemeinden schriftliche Regeln zur Pflege und Nutzung des Waldes festgehalten.
In unvorstellbar langen Zeitspannen wurden Gipfel und Täler dieser herrlichen Landschaft geformt. Erst seit wenigen Jahrhunderten greift auch der Mensch entscheidend in die Gestaltung der Landschaft ein. Die Wälder wurden abgeholzt, um Platz für Wiesen und Weiden zu schaffen, die Böden urbar gemacht und eingeebnet, um Ackerbau zu betreiben. Siedlungen wurden errichtet, Saumpfade und Wege angelegt, der Bergbau entwickelte sich, und in den letzten Jahrzehnten wurden schließlich Stauseen gebaut, um die Wasserkraft zur Elektrizitätsgewinnung zu nutzen.
In allen Tälern finden sich Beispiele für weltliche und kirchliche Architektur dieser Pionierzeit. Sägewerke, Mühlen und Hospize, die für die Reisenden errichtet wurden. Sie sind gewissermaßen ein Freiluftmuseum alpiner Architektur, die zumeist der Landschaft angepasst war.